Prof. Dr.-Ing. Dipl.-Wirt.-Ing. Günther Schuh ist seit 2002 Inhaber des Lehrstuhls für Produktionssystematik an der RWTH Aachen. Weiterhin ist er Direktor des FIR – Forschungsinstitut für Rationalisierung e. V. sowie Mitglied des Direktoriums des Werkzeugmaschinenlabors (WZL) der RWTH Aachen und des Fraunhofer-Institut für Produktionstechnologie (IPT). Er ist Mitbegründer des Elektro-Fahrzeugherstellers Streetscooter und Geschäftsführer des Elektro-Fahrzeugherstellers e.GO Mobile. Eine weitere Hochschulaufgabe liegt in der Geschäftsführung der RWTH Aachen Campus GmbH. Schuh hat an der RWTH Aachen Wirtschaftsingenieurwesen studiert und dort auch promoviert; seine Habilitation erlangte er an der Schweizer Universität St. Gallen.
Herr Professor Schuh, warum haben Sie Wirtschaftsingenieurwesen studiert?
Der deutsche Ingenieur/Wirtschaftsingenieur ist und war ein Markenzeichen, das weltweit bekannt und anerkannt ist. Das Studium des Wirtschaftsingenieurwesens bot für mich damals die ideale Möglichkeit mein technisches und zugleich wirtschaftliches Interesse auf akademischer Ebene zu vereinen. Aus der Retrospektive war das genau die richtige Entscheidung, von der ich noch heute profitiere.
Was zeichnet Ihrer Ansicht nach Wirtschaftsingenieure/Wirtschaftsingenieurinnen besonders aus?
Wirtschaftsingenieure verfügen in der Regel über eine Vielzahl von Fähigkeiten, die im späteren Berufsleben helfen und in der Industrie gefragt sind. Dazu gehören beispielsweise strukturiertes und analytisches Denken sowie das schnelle Erfassen von komplexen Sachverhalten. Eine besondere Gabe, die jeder studierte Wirtschaftsingenieur mit sich bringt, ist das schnelle „umswitchen“ zwischen der tiefgreifenden Betrachtung von technischen Details und der Betrachtung übergeordneter wirtschaftlicher Fragestellungen. Ein Wirtschaftsingenieur ist daher in der Lage, Probleme aus unterschiedlichen Perspektiven zu betrachten und in kürzester Zeit kreative Lösungen zu erarbeiten.
Stichwort Interdisziplinarität: Sind aus Ihrer Sicht Absolventen und Professionals mit einem weiten Horizont momentan besonders gefragt?
Unterschiedliche Disziplinen verschmelzen miteinander. Ein Ingenieur musste früher technisches Verständnis von beispielsweise der Konstruktionslehre haben. Heute muss er das immer noch, aber zusätzlich auch Grundkenntnisse im Bereich der Betriebswirtschaft haben. Die Halbwertszeit von Wissen ist heute kürzer denn je. Wissen kann heute gegoogelt werden und ist überall und zu jederzeit verfügbar. Daher ist es besonders heute wichtig, einen breiten Horizont zu haben, um zu wissen, wo und nach welchen Informationen man suchen muss.
Von welcher technischen und/oder gesellschaftlichen Entwicklung erwarten Sie ein die Zukunft besonders prägendes disruptives Potenzial?
Das größte technisch disruptive Potenzial geht von der Analyse von großen Datenmengen aus. Die Fähigkeiten der automatisierten Datenauswertung und Dateninterpretation stellen die wesentlichen Potenziale der Zukunft dar. Rechen-, Speicher-, und Kommunikationsressourcen sind leistungsfähig, günstig und klein, wodurch physische Produkte und Prozesse „smartifiziert“ werden können. Beispielsweise werden Logistik- und Produktionsprozesse künftig einen signifikanten Effizienzsprung erfahren. Durch den Einsatz Cyber-Physischer-Systeme, die sich selbstständig optimieren, werden die Leistung gesteigert und Kosten gesenkt. In diesem Zusammenhang kann man durchaus von der vierten industriellen Revolution sprechen, da jede industrielle Revolution die Leistung sprunghaft auf ein signifikant höheres Niveau befördert hat. Dieser Sprung ist notwendig, da die Produktkomplexität und Variantenvielfalt immer weiter zunimmt. Besonders wir Deutschen müssen die aktuellen Entwicklungen nutzen und eine Vorreiterrolle einnehmen. Nur so können wir den technischen und technologischen Vorsprung wieder ausbauen, der in der Vergangenheit immer geringer wurde.
Wie muss sich aus Ihrer Sicht die Ausbildung wandeln, um den Herausforderungen der Zukunft gerecht zu werden?
Deutschland verfügt mit dem dualen Ausbildungssystem über einen wesentlichen Wettbewerbsvorteil gegenüber anderen Nationen. Diesen Vorteil müssen wir bewahren und stärken. Zusätzlich muss die Ausbildung breiter werden und interdisziplinär erfolgen. Die Ausbildung, insbesondere die universitäre Ausbildung, muss praxisnah gestaltet werden. Akademische Ausbildung und Forschung ist wichtig, häufig wird jedoch an der Realität „vorbeigeforscht“. Es ist daher zwingend notwendig, dass sich sowohl Forschung als auch Ausbildung an den Bedürfnissen der Industrie orientieren. Angewandte Forschung und Ausbildung ist kein neues Thema. Auch Forschungsprojekte, die in interdisziplinären Teams von wissenschaftlichen Mitarbeitern und Mitarbeitern aus der Industrie gemeinschaftlich bearbeitet werden, existieren seit vielen Jahren. Heute reicht das nicht mehr aus. Die Intensität der Zusammenarbeit muss wesentlich gesteigert werden. Um die Zusammenarbeit zu fördern, müssen reale Räume geschaffen werden, in denen Hochschule und Industrie auf natürliche Weise aufeinandertreffen. Wir verfolgen dieses Konzept schon seit einigen Jahren mit dem kontinuierlichen Ausbau des RWTH Aachen Campus. Durch größtenteils privatwirtschaftlich finanzierte Gebäude sind wir in der Lage, der Hochschule und der Industrie Flächen innerhalb kurzer Zeit zur Verfügung zu stellen, auf denen ausgebildet, geforscht und gearbeitet wird. Die räumliche Nähe und die Interdisziplinarität sind dabei das Erfolgsrezept des RWTH Aachen Campus.
In den Sommerinterviews befragt der VWI in loser Folge Wirtschaftsingenieure und Wirtschaftsingenieurinnen, die wichtige Positionen in Industrie und Lehre innehaben, zu ihrem Blick auf das Berufsbild.