Jede Fachrichtung hat ihre eigenen Sichtweisen auf die Welt. Bei Wirtschaftsingenieurinnen und Wirtschaftsingenieuren ist es die der Produktivität und Effizienz. „Na, alles produktiv?“ So oder so ähnlich begrüßen sich WiIngs gerne untereinander, denn Kennzahlen über Produktivität und Prozesseffizienz sind das Barometer für Unternehmen und ob diese noch wettbewerbsfähig sind – insbesondere in Krisenzeiten, wie wir sie in Mitteleuropa und der ganzen Welt spätestens seit 2020 erleben.
Unternehmen stehen mehr denn je unter Effizienzdruck
Die Analyse von Prozessen auf Effizienz und Belastbarkeit im turbulenten Marktumfeld ist seit jeher eine der Kernaufgaben des Wirtschaftsingenieurwesens. Dabei generieren operative IT-Systeme immer mehr Daten, und neue Methoden aus der Datenanalytik erlauben es, diese Daten effektiv auszuwerten – auch für aussagekräftige Prozessanalysen, die WiIngs für ihr Unternehmen nutzen können.
Kleiner Exkurs – Effektivität vs Effizienz
Effektivität ist die Konzentration darauf, das richtige Ziel mit den richtigen Mitteln zu erreichen, während Effizienz darauf abzielt, die Ressourcen auf dem Weg dorthin optimal zu nutzen. Es ist wichtig, dass Organisationen und Individuen beide Aspekte berücksichtigen, um sowohl zielgerichtet als auch ressourceneffizient zu sein.
Spätestens mit dem Erscheinen von ChatGPT ist die Macht der Daten, die das Futter für KI hergibt, in der breiten Öffentlichkeit sichtbar geworden. Doch Unternehmen haben die Möglichkeit, Daten sehr konkret für sich zu nutzen: unter Einsatz von Business Intelligence, Data Science und auch mit Process Mining.
Process Mining – Datengetriebene Prozessanalysen
In der heutigen Welt der Vernetzung, in der operative IT-Systeme der Kategorien ERP, CRM usw. große Datensätze generieren, sollten Geschäftsprozesse eigentlich allen entscheidenden Stakeholdern im Unternehmen transparent werden.
Doch gerade der hohe Grad an Vernetzung, die Definition von Verantwortlichkeiten sowie die Systemvielfalt sorgen dafür, dass Unternehmensprozesse dem Team nicht transparent erscheinen. Selbst dann, wenn es definierte Sollprozesse gibt, ist der tatsächliche Prozess nahezu immer deutlich komplexer.
Kleiner Exkurs – Kompliziertheit vs Komplexität
Kompliziertheit bezieht sich auf die strukturelle Schwierigkeit oder den Detailgrad eines Systems, während die Komplexität sich auf die Art der Interaktionen innerhalb des Systems und die daraus resultierenden unvorhersehbaren Ergebnisse bezieht. So ist ein Bauplan eines Motors, eine mathematische Formel oder ein Stadtplan möglicherweise kompliziert zu verstehen, die Dynamik des laufenden Motors, des ausführenden Algorithmus oder des fließenden Stadtverkehrs komplex.
Durch Rekonstruktion von Unternehmensprozessen aus den Daten der IT-Systeme können tatsächliche Ist-Analysen durchgeführt und somit die Transparenz über die Prozesse gewonnen werden. Diese analytische Methodik wird als Process Mining bezeichnet, eine begriffliche Kombination aus Data Mining und Prozessanalyse.
Anwendungsfälle für Process Mining
Process Mining visualisiert reale Prozessabläufe und unterstützt datengetriebene Entscheidungen, um Effizienz, Compliance und die Prozessqualität (und damit die Kundenzufriedenheit) zu steigern. Untersucht werden können alle Geschäftsprozesse, die über IT-Systeme erfasst werden, beispielsweise Kundenbezahlprozesse (Order to Cash) oder der Einkaufsprozess (Procure to Pay). Jedoch können über weitere IT-Systeme, wie etwas MES, Ticket- oder PLM-Systeme, auch Prozesse in der Produktion und Logistik untersucht werden.
Für WiIngs interessant sind dabei vor allem die Prozessanalysen im Hinblick auf sich häufig wiederholende Prozessmuster, deren Wartezeiten, Engpässe, Dopplungen oder gar Prozessabbrüche, denn diese weisen auf instabile Prozesse oder auf Optimierungspotenziale hinsichtlich der Effizienz hin. Dabei können auch implizite Prozessabweichungen entdeckt werden, beispielsweise wenn eine ERP-System-Konfiguration das Einhalten eines vorgegebenen Prozesses nicht erlaubt.
Technologisch kann Process Mining als eine Unterart von Business Intelligence (BI) gesehen werden. Und in der Tat werden Prozessanalysen gerne mit gängigen BI-Reports etwa zur OEE (Overall Equipment Effectiveness) kombiniert.
Zunehmend werden auch dezentrale Datensysteme auf Basis von Technologien wie der Blockchain oder Internet of Things (IoT) im Kontext der Industrie 4.0 für Process Mining genutzt und erweitern den Anwendungsspielraum deutlich, bis hin zur 100-prozentigen Prozesstransparenz über die Supply Chain hinweg.
Process Mining dient Lean Management
Process Mining macht Lean Management eigentlich erst richtig umsetzbar. Durch die Visualisierung und Analyse realer Produktions- und anderer Geschäftsprozesse ermöglicht es die Identifizierung von Engpässen und Ineffizienzen rein faktenbasiert auf Grundlage der tatsächlichen operativen Daten. Diese Transparenz ist wesentlich für die kontinuierliche Verbesserung von Prozessen, ein Kernprinzip des Lean Managements. Mit Process Mining können Unternehmen ihre Prozesse optimieren, was zu Kostensenkungen und Effizienzsteigerungen führen kann, wenn die Prozesseinblicke umgesetzt werden. Process Mining unterstützt die Nachhaltigkeit, denn es trägt zur Reduzierung von Verschwendung und zur Verbesserung der Gesamtprozessqualität bei.
Technische Voraussetzungen für Process Mining
Die einzige kritische Voraussetzung ist der Zugang zu qualitativ hochwertigen Datenextrakten aus den operativen IT-Systemen, die für den jeweilig zu untersuchenden Prozess relevant sind. Manchmal ist hierfür sogar bereits der Weg das Ziel, denn Lücken in der Prozessdatenerfassung bedeuten Lücken in der Prozesstransparenz. Diese Lücken sollen in diesem Sinne also geschlossen werden, müssen dafür wiederum jedoch erst gefunden werden. Process Mining führt folglich auf dem Weg zum Ziel so ganz nebenbei zu besserer Datenabdeckung und Datenqualität in der Unternehmensorganisation.
Software-seitig gibt es einige Process-Mining-Tools wie etwa von Celonis, Signavio (SAP) und UiPath. Jedoch gibt es noch viele weitere Tools, manche von diesen sind Desktop- oder Cloud-Anwendungen, einige auch nur Erweiterungen für bekannte BI-Tools wie Qlik Sense oder Microsoft Power BI.
Um einen sogenannten Vendor-Lock-In zu vermeiden, sollte die Datenaufbereitung idealerweise auf einer separaten Datenbank stattfinden, wie es für die Business Intelligence als sogenanntes Data Warehouse üblich ist. Denn so können die Event-Log-Datenmodelle in beliebige Analyse-Tools geladen und wiederverwendet werden.
Wie WiIngs in Process Mining einsteigen können
Für WiIngs, die in Process Mining einsteigen möchten, ist es wichtig, zuerst ein grundlegendes Verständnis dieser Analysemethodik zu entwickeln, gepaart mit dem bereits vorhandenen Wissen über Geschäftsprozesse. Für den tieferen Einstieg spielen dabei erste Erfahrungen mit BI-Tools und SQL-Kenntnisse eine Rolle. Diese Tools sind entscheidend für die effektive Analyse und Präsentation von durch Process Mining gewonnenen Daten. Praktische Anwendung durch Projekte oder die Analyse von Datensätzen vertiefen das Verständnis. Kontinuierliche Weiterbildung durch Kurse, Teilnahme an Fachgruppen und Konferenzen sowie das Verfolgen neuester Trends im Bereich Process Mining sind ebenfalls wichtig.
Führungskräfte brauchen den technischen Einstieg nicht zu vollziehen, werden mit den Grundlagen des Process Mining jedoch die richtigen Anwendungsfälle erkennen und den Nutzen abwägen können. Immer dann, wenn operative Prozesse von IT-Systemen getrackt werden, ist diese datengetriebene Prozessanalyse genau der richtige Ansatz, Lean Management zum Erfolg zu führen.
Gastautor Benjamin Aunkofer ist Software-Entwickler und Wirtschaftsingenieur. Als Chief AI Officer und Gründer der Datanomiq, einem Dienstleister für Daten und KI, ist er seit 2015 in der Unternehmensberatung sowie Wirtschaftsprüfung tätig, um mit Unternehmensdaten Prozesse zu optimieren und diese in echte Geschäftswerte zu verwandeln.
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