1. Inhalt und Stand der Diskussion um den Weihnachtsmann
ADAM (1995) veröffentlichte einen Artikel, in dem aus wissenschaftlicher Sicht nachgewiesen werden sollte, dass der Weihnachtsmann nicht existieren könne beziehungsweise aufgrund seines spezifischen Handelns ums Leben gekommen sein müsste.
Die wesentlichen Argumente, die einer Bescherung durch den Weihnachtsmann entgegenstehen sollen, lauteten zusammengefasst:
Missverhältnis zwischen der Zahl der zu bescherenden Kinder einerseits und der für die Bescherung zur Verfügung stehenden Zeit andererseits, daraus folgend enorm hohe zu erreichende Geschwindigkeit, daraus wiederum und aus dem erheblichen Gewicht der transportierten Geschenke folgend extrem hohe Energieumwandlungen, denen der Weihnachtsmann sowie die von ihm gelenkten Rentiere ausgesetzt seien.
Mit der vorliegenden Betrachtung dieses Problems möchte der Verfasser zum einen nachweisen, dass der von ADAM veröffentlichte Artikel den selbst gestellten Anspruch der Wissenschaftlichkeit nicht erfüllt, und zum anderen einen alternativen Ansatz zur Erklärung des Weihnachtsmann-Phänomens entwickeln. Auf den bemerkenswerten Beitrag von HACKE (1995) soll in diesem Zusammenhang nicht näher eingegangen werden, da der Verfasser einen andersartigen Ansatz verfolgt. Dennoch sei auf den Wert jenes Beitrages ausdrücklich hingewiesen.
2. Kritik am von ADAM veröffentlichten Artikel
2.1 Formale Einwände
Der wohl gravierendste Schwachpunkt des Artikels ist das Fehlen jeglicher Angabe über den Autor. Dies verletzt in eklatanter Weise die Gepflogenheiten wissenschaftlicher Publikation und erschwert in erheblichem Maße den wissenschaftlichen Diskurs über das Thema. Als Quellenangabe ist lediglich ein unvollständiger Nachweis über Publikationszeitschrift und Erscheinungsort, nicht jedoch über das Erscheinungsjahr aufgeführt. Diese Missstände lassen den Verdacht aufkeimen, dass der Autor jenes Artikels überhaupt nicht aus dem Wissenschaftsbereich oder anderen kompetenten Kreisen stammt und es sich lediglich um eine pseudo- oder „populär“-wissenschaftliche Arbeit handelt.
2.2 Inhaltliche Einwände
Wenngleich die wissenschaftliche Kompetenz des unbekannten Autors angezweifelt werden mag, so bleibt festzustellen, dass er aus einem natur- beziehungsweise ingenieurwissenschaftlichen Ansatz heraus argumentiert. Bei aller dabei aufgewandten Exaktheit vernachlässigt er dabei jedoch gesellschafts- und wirtschaftswissenschaftliche sowie geographische Aspekte.
3. Zur Frage der Singularität oder Pluralität des Weihnachtsmannes
Stillschweigend geht der unbekannte Autor von einer wesentlichen, in wissenschaftlichen Kreisen kontrovers diskutierten Grundvoraussetzung aus, ohne diese zu erwähnen, nämlich der Annahme, dass es nur einen Weihnachtsmann gäbe. Im Gegensatz zu HACKE, der einen astrophysikalischen Erklärungsansatz der potenziellen Existenz eines Weihnachtsmannes beisteuerte, soll in diesem Beitrag von der Annahme der Existenz vieler Weihnachtsmänner ausgegangen werden. Folgende Überlegungen geben dazu Anlass:
3.1 Berichte über den Weihnachtsmann
Es existieren unterschiedliche Berichte über Aussehen und Verhaltensweise des Weihnachtsmannes, insbesondere in der zentralen Frage seiner Fortbewegung. Allein dort reicht das Spektrum von fliegenden über normal im Schnee fahrenden Rentierschlitten bis hin zu einem fußläufigen Weihnachtsmann, der die Geschenke in einem Sack transportiert. Auch die Art und Weise der Bescherung variiert von heimlichem Ablegen der Geschenke bis hin zu persönlichem Erscheinen und dem Einfordern von Darbietungen (Gedichte, Lieder). Bei aller Unterschiedlichkeit der Berichte ist dem Verfasser keine Dokumentation bekannt, in der von der wahnsinnigen Geschwindigkeit, wie sie vom unbekannten Autor postuliert wurde, die Rede wäre.
Besondere Beachtung verdient in diesem Zusammenhang die große räumliche Differenzierung der Berichte sowohl auf nationaler als auch auf regionaler Ebene. So werden verschiedene Herkunftsorte und regionale Präferenzen des Weihnachtsmannes überliefert (vgl. SCHÜMER, 1995). Die Annahme, dass jederorts von einem Weihnachtsmann nach anglo-amerikanischem Vorbild (fliegender Rentierschlitten, heimliche Geschenkablieferung, Zutritt durch den Schornstein) in Erscheinung tritt, wird dem Anliegen einer allgemeinen, das heißt unter anderem globalen Erklärung des Phänomens nicht gerecht. Die Heterogenität der Berichte über den Weihnachtsmann lässt sich am schlüssigsten mit dessen Pluralität begründen.
3.2 Pluralität im Lichte volkswirtschaftlicher Modellbildung
Der unbekannte Autor hat in unzulässiger Weise die makro- und die mikroökonomische Betrachtungsebene vertauscht, indem er die Existenz eines Weihnachtsmannes, der alle Kinder beschert, verneinte. Dem soll gegenübergestellt werden, dass entweder ein Weihnachtsmann einige Kinder beschert (mikroökonomische Ebene) oder viele Weihnachtsmänner alle Kinder bescheren (makroökonomische Ebene).
Diese fehlerhafte Aggregation des unbekannten Autors beweist wiederum dessen Mangel an Wissenschaftlichkeit beziehungsweise zumindest an Interdisziplinarität.
3.3 Pluralität und simultanes Erscheinen des Weihnachtsmannes
Ernstzunehmende Berichte über den Weihnachtsmann können nur dann erwartet werden, wenn dieser auch leibhaftig in Erscheinung tritt, anders ausgedrückt, wenn der Berichterstatter den Weihnachtsmann zu Gesicht bekommen hat. Unter dieser Voraussetzung müsste es mit Hilfe moderner Kommunikationsmedien möglich sein, das simultane Auftreten des Weihnachtsmannes an mehreren Orten nachzuweisen. Wenn man den Ansatz nach HACKE (Manipulation des Raum-Zeit-Gefüges von Seiten des Weihnachtsmannes) außer Acht lässt, dürfte eine positive Evaluation dieser These den wohl überzeugendsten Beweis für die Pluralität des Weihnachtsmannes liefern. Wenn trotz der Annahme der Existenz mehrerer Weihnachtsmänner weiterhin der Begriff „der Weihnachtsmann“ benutzt wird, so ist damit die Verallgemeinerung auf das Phänomen Weihnachtsmann gemeint.
4. Fragestellungen einer weitergehenden Erforschung des Phänomens Weihnachtsmann unter Annahme dessen Pluralität
Der Verfasser möchte mit dieser Aufstellung einen Vorschlag zur Definition der Stoßrichtung weiterer wissenschaftlicher Weihnachtsmann-Forschung unterbreiten:
4.1 Verhältnis der pluralen Weihnachtsmänner untereinander
Von besonderem wirtschaftswissenschaftlichem Interesse dürfte die Frage sein, wie die pluralen Weihnachtsmänner zueinander stehen. Möglich ist dabei:
– Die Weihnachtsmänner arbeiten kooperativ, wobei die Kompetenzabgrenzung von Interesse wäre. Am ehesten wäre von regionaler Kompetenzabgrenzung auszugehen, allerdings sind auch andere Bestimmungsgrößen denkbar.
– Die Weihnachtsmänner stehen in Konkurrenz zueinander, was die Position der Bescherten auf dem Markt erheblich stärken würde.
4.2 Anzahl der pluralen Weihnachtsmänner
Ausgehend von den Berechnungen des unbekanntes Autors könnte zwar die maximale Bescherungsquote je Weihnachtsmann und daraus in Kombination mit der Zahl der zu bescherenden Kinder die Anzahl der pluralen Weihnachtsmänner errechnet werden, jedoch lässt die regionale Differenzierung des Weihnachtsmann-Verhaltens die Möglichkeit, eine allgemeine Formel zur Bestimmung dieser Quote aufzustellen, zweifelhaft erscheinen. Für einen empirischen Befund wären andererseits zunächst umfangreiche Untersuchungen auf regionaler Maßstabsebene durchzuführen. Grundsätzlich ist jedoch davon auszugehen, dass sich die Anzahl der pluralen Weihnachtsmänner einer durch den Term Grenzbescherung nach Grenzaufwand beschriebenen optimalen Anzahl pluraler Weihnachtsmänner annähert (vgl. erstes GOSSENsches Gesetz).
4.3 Räumliches Auftreten der pluralen Weihnachtsmänner
Die geographisch relevante Frage nach der räumlichen Organisation der pluralen Weihnachtsmänner müsste zunächst einmal im Lichte der Standorttheorien betrachtet werden. Ausgehend von der Annahme regionaler Kompetenzabgrenzung scheint hierbei die Anwendung der Theorie der zentralen Orte (CHRISTALLER, 1933) geboten. Aufbauend auf einer Berechnung der Reichweite und somit des Aktionsraumes eines einzelnen Weihnachtsmannes ergibt sich die Zentralität des Standortes des betreffenden Weihnachtsmannes, die in Interdependenz zur Standortzentralität benachbarter Weihnachtsmänner zu einem charakteristischen räumlichen Verteilungsmuster führt, das sich idealtypischerweise einem Sechseckmuster annähert. Raumwirtschaftspolitische Brisanz enthielte eine Untersuchung über Zweck und Notwendigkeit einer bewussten Weihnachtsmannförderung, insbesondere im Hinblick auf Bescherungs-Infrastruktur.
Anzuregen wäre auch eine spezielle Verkehrsgeographie der pluralen Weihnachtsmänner, die in engem Zusammenhang mit deren spezifischer Bescherungstypologie stünde.
4.4 Organisationsform der pluralen Weihnachtsmänner
Eher betriebswirtschaftlicher Art wäre die Frage nach der inneren Organisation des Systems pluraler Weihnachtsmänner. Da nicht davon auszugehen ist, dass diese sich nationalem Handelsrecht zu unterwerfen haben, können allenfalls Parallelen zwischen weihnachtsmännischen und (hier beispielhaft aufgeführten) deutschen betrieblichen Organisationsformen gezogen werden. Von zentraler Bedeutung ist dabei die bereits unter 4.1 angesprochene Kooperation oder Konkurrenz der pluralen Weihnachtsmänner untereinander.
Sollten sie kooperativ, letztlich also nicht marktregulativ bescheren, so wäre dies am ehesten mit einer Körperschaft öffentlichen Rechts zu vergleichen, die ein individuelles Organisationsgefüge vorweisen wird.
Liegt jedoch eine Konkurrenzsituation vor, wäre zunächst zu klären, ob diese vorwiegend in personen- oder kapitalgesellschaftsähnlichen Formen ausgeprägt ist. Dies hat weitreichende Konsequenzen für die Bescherten, da davon abhängt, ob der einzelne Weihnachtsmann für etwaige Schäden oder sonstige Beeinträchtigungen, die mit dem Geschenk zusammenhängen, haftbar zu machen ist beziehungsweise ob dies in unbegrenzter oder beschränkter Haftung geschieht. Beispiele für Personengesellschaften wären u.a. Einzelweihnachtsmann, Offene Bescherungsgesellschaft (OBG) und Konditoritgesellschaft (KG), für Kapitalgesellschaften Bescherung mit beschränkter Haftung (BmbH) und Spekulatiengesellschaft (SG). Nicht von der Hand zu weisen wäre die Vermutung, es könne sich um eine eingetragene Weihnachtsmannschaft (eW) handeln. Mangels entsprechender Berichte kann vorläufig nur spekuliert werden, ob für die pluralen Weihnachtsmänner ein Bescherungsverfassungsgesetz existiert. Eine Klärung dieser Frage würde einen entscheidenden Durchbruch in der Bescherungwirtschaftslehre (BWL) bringen.
Eine erhebliche volkswirtschaftliche Relevanz käme im Falle konkurrierender Weihnachtsmänner dem Umstand bei, ob es sich um einen Markt mit vollständiger Konkurrenz oder um ein Oligopol handelt.
4.5 Zur Problematik anderer Bescherungspersonen
Bisher wurde ausschließlich von Weihnachtsmännern ausgegangen. Jedoch liegen in nicht unerheblichem Maße Berichte über andere bescherende Personen vor. Nikolaus und Knecht Ruprecht werden zwar ähnlich dem gemeinen Weihnachtsmann beschrieben, jedoch ist eine personelle Identität nicht eindeutig nachgewiesen. Man könnte das Problem jedoch mit der regionalen beziehungsweise soziologischen Differenzierung der pluralen Weihnachtsmänner erklären. Komplizierter verhält es sich im Falle des bescherenden Christkindes. Hier scheint jegliche personelle Identität mit dem allgemeinen Weihnachtsmann ausgeschlossen. Die Fragestellung bei paralleler Existenz und Bescherung von Weihnachtsmann und Christkind, wäre: Verhalten diese sich gegenseitig
– substituierbar, d.h. können sie letztendlich beliebig gegeneinander ausgetauscht werden,
– komplementär, d.h. bedingen sie sich gegenseitig (ohne Christkind keine Bescherung durch den Weihnachtsmann), oder
– indifferent, d.h. besteht keinerlei funktionale Beziehung zwischen beiden Parteien.
5. Ausblick
Die oben aufgeführte Reihe von Vorschlägen zur Erforschung des Phänomens Weihnachtsmann erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Vielmehr soll sie einen breiten, interdisziplinären Diskurs anregen, der der Vielschichtigkeit des Themas gerecht würde. Wünschenswert wäre dabei auch eine Beteiligung der Sozialwissenschaften. Am Wesentlichsten erscheint es dem Verfasser, dass sich die Wissenschaft in ihrer Gesamtheit dem Thema öffnet, damit der öffentliche Diskussion über den Weihnachtsmann nicht länger von unwissenschaftlichen, von einseitigen Interessen dominierten Argumenten beherrscht wird. Stattdessen möge eine versachlichte, dem Wahrheitsgehalt und nicht der interessenvertreterischen Opportunität verpflichteten Behandlung des immer wieder aktuellen Themas Weihnachtsmann eintreten.
Literatur
– BASSELER, U., J. HEINRICH und W. KOCH: Grundlagen und Probleme der Volkswirtschaft, Köln 1988
– CHRISTALLER, W., Die zentralen Orte in Süddeutschland; Jena 1933
– HACKE, U., Memorandum Mehr zum Thema Weihnachtsmann; Hannover 1995
– N.N., Gibt es den Weihnachtsmann, in: Akzente, Krefeld (Erscheinungsjahr unbekannt; veröffentlicht von ADAM)
– L. SCHÜMER, D., Julenisses Mütze – Weihnachten als Ideologie: Norwegen feiert, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 23.12.1995
von Peter Jenkner, Hannover