Prof. Dr. habil. Heiko von der Gracht ist einer von nur zwei Lehrstuhlinhabern für Zukunftsforschung in Deutschland. An der School of International Business and Entrepreneurship der Steinbeis-Hochschule (SIBE) erforscht er seit 2019 die Zukunft der Lebens- und Arbeitswelt und lehrt in den berufsintegrierten Master- und Promotionsprogrammen. Seit 2013 verantwortet Professor von der Gracht zudem bei der KPMG Wirtschaftsprüfungsgesellschaft die Zukunftsstudien, zuletzt zu den Themen: „Künstliche Intelligenz 2040“, „Future-Proof Procurement 2035+“ und „Die Arbeitswelt von morgen“. Von der Gracht hat an der Hochschule Niederrhein und der Fontys Hochschule in den Niederlanden Wirtschaftsingenieurwesen studiert.
Herr von der Gracht, warum haben Sie Wirtschaftsingenieurwesen studiert?
Daran ist mein Vater schuld. Kurz nach dem Abitur, als ich wie viele meiner Kolleginnen und Kollegen nicht so recht wusste, wohin mit mir, sagte er: „So wie ich dich kenne, liegen dir insbesondere Planung, Strukturierung und Organisation. Wirtschaftsingenieurwesen fördert diese Interessen und Begabungen am besten. Denn dieses Studium ist hoch interdisziplinär.“ Es war auch für kurze Zeit Jura im Gespräch. Aber wie die Geschichte zeigt: Mein Vater hatte Recht und ich würde auch heute wieder denselben Weg gehen.
Welche Skills, die Sie im Studium erlernt haben, waren für Ihren Werdegang besonders wichtig?
Interdisziplinär denken und handeln zu können, ist in meinen Augen ein unschlagbarer Vorteil. Die Welt, in der wir leben und arbeiten, ist zunehmend komplexer und dynamischer. Gerade der Rückblick auf die letzten Jahre zeigt doch, dass Branchengrenzen weiter einreißen und wir eine Konvergenz der Technologien erleben.
Mein Erststudium war auf ideale Weise generalistisch – spezialisieren kann man sich hinterher immer noch. Interdisziplinarität ist exakt jene Kompetenz, die ich heute einsetze und in meinen Zukunftsstudien ausspiele. Wenn ich ein konsistentes und plausibles Szenario für die Strategie oder das Innovationsmanagement aufstelle, dann muss ich eben sämtliche Aspekte der Zukunft in Interdependenzen und Kausalzusammenhängen betrachten können – von Wirtschaft und Umwelt über Gesellschaft und Politik bis hin zur Technologie. Dieses ganzheitliche, systemische, vernetzte Denken wurde während meines Studiums besonders gefördert.
Welche Bedeutung hat für Sie als Wirtschaftsingenieur der Faktor Interdisziplinarität?
Eine entscheidende Bedeutung, denn wirklich alle komplexen Herausforderungen der modernen Welt, von der drohenden Rohstoffknappheit, über die Cyber-Sicherheit bis hin zur nachhaltigen Mobilität, lassen sich nur interdisziplinär meistern. Das war mir schon früh klar. Deshalb habe ich schon in meiner frühen Forschungs- und Lehrtätigkeit die Doktoranden-Teams immer interdisziplinär zusammengestellt: vom Wirtschaftsgeographen über Ethnologen bis hin zu Laser-Technikern und Betriebswirtschaftlern. Am Anfang ist es immer herausfordernd, bei so heterogenen Teams ein gemeinsames Verständnis zu entwickeln, weil alle so unterschiedlich denken und sprechen, doch nach der ersten Anlaufzeit entfalten sich die überragenden Potenziale dieser interdisziplinären Teams umso stärker – und die Ergebnisse sind einfach originell.
Sind aus Ihrer Sicht Absolventen und Professionals mit einem weiten Horizont mo-mentan besonders gefragt?
Das sehe ich an meiner eigenen Einstellungspraxis sowie an dem, was die Kolleginnen und Kollegen bevorzugen. Denn nur eine breite Ausbildung bereitet optimal auf das immer komplexer werdende Berufsleben vor. Das ist der eine Faktor. Der andere ist, immer auch Eigenschaften und Themen zu fördern, die mich am Markt differenzieren und außergewöhnlich machen. Indem man zum Beispiel ein herausragendes Thema belegt, das sonst noch keiner oder nur wenige belegen, beispielsweise in Fragen der Robo-Ethik. Oder indem man eine einzigartige Kombination sehr unterschiedlicher Fachrichtungen wählt. In Zeiten von Disruption und digitaler Transformation sind unkonventionelle und originelle Denkanstöße Gold wert und die Menschen, die das liefern können, sehr begehrt.
Stichwort weiter Horizont: Welches Thema beschäftigt Sie gerade besonders und warum?
Das Thema Künstliche Intelligenz und Arbeitswelt der Zukunft: Wie viele neue Jobs und Berufe entstehen durch die Technologien der Zukunft? Werden es 10, 20 oder gar 30 Prozent mehr sein? Kaum einer hat vor 20 Jahren schon an Jobs wie Web-Designer, Visual Artist, Social Media Manager und Influencer gedacht. Und inwieweit schaffen Roboter es tatsächlich, uns alle lästigen, schmutzigen, gefährlichen oder repetitiven Aufgaben abzunehmen? Ganz konkret beschäftige ich mich gerade auch mit dem multi-sensorischen Internet, das heißt der Digitalisierung von Sinneseindrücken wie Geruch und Geschmack. Damit könnte ich online nicht nur die schönste, sondern auch die am besten duftende Rose via Notebook einkaufen. Oder der KI-Advisor in der Hosentasche, mit dem ich eine direkte Verbindung zum Superrechner habe: Nie wieder unüberlegte oder schwache Entscheidungen!
Von welcher technischen und/oder gesellschaftlichen Entwicklung erwarten Sie in den kommenden fünf bis zehn Jahren ein die Zukunft besonders prägendes Potenzial?
Es gibt derzeit viele interessante neue technische Entwicklungen. Besonders die Gedankensteuerung hat es mir angetan. Noch während ich im Bett liege, kann ich bereits die Kaffee-Maschine anschalten – ohne einen Finger zu bewegen. Ein Beispiel aus der Arbeitswelt: Ich kann leider binnen weniger Sekunden keine 30 Knöpfe und Hebel bedienen, um zum Beispiel eine Maschine zu steuern. Aber ich kann in wenigen Sekunden locker 30 Gedanken fassen – und die Maschine führt sie aus. Unser menschlicher Wirkungsgrad würde sich verzigfachen! Auch für bewegungseingeschränkte Menschen wird die Gedankensteuerung eine wahre Wohltat sein: Sie können so ihre Prothesen und Rollstühle mit Gedankenkraft steuern.
In den Sommerinterviews befragt der VWI in loser Folge Wirtschaftsingenieure und Wirtschaftsingenieurinnen, die wichtige Positionen in Industrie und Lehre innehaben, zu ihrem Blick auf das Berufsbild.
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