2008 sorgte die Lehman-Brothers-Pleite für Erschütterungen in der globalen Wirtschaft. Zehn Jahre danach bringen Faktoren wie der Brexit, US-chinesische Handelssanktionen und die Italien-Krise erneut Unsicherheiten für Unternehmen weltweit. Eine aktuelle Studie analysiert, wie Unternehmen während der letzten Finanzkrise ihre Lagerbestände gemanagt haben. „Die Unternehmen haben sehr unterschiedlich auf plötzliche Rückgänge bei der Nachfrage reagiert, die nach Beginn der Finanzkrise auftraten“, sagt Wirtschaftsingenieur Kai Hoberg, Professor für Supply Chain and Operations Strategy an der Kühne Logistics University in Hamburg: „Während viele Unternehmen ein erhebliches Wachstum ihrer Lagerbestände zugelassen haben, haben andere Unternehmen ihre Bestände sorgfältig auf die sich verlangsamende Nachfrage abgestimmt. Und wieder andere haben ihre Lagerbestände sogar aggressiv abgebaut und auf einen Level gebracht, der deutlich unter dem vor der Finanzkrise lag.“
Zu hohe Lagerbestände in Milliardenhöhe
Gemeinsam mit Professor Maximiliano Udenio von der Katholieke Universiteit Leuven in Belgien und KLU-Professor Jan Fransoo hat Hoberg eine große Studie zur Agilität von Lagerbeständen bei Unternehmen durchgeführt und sich dabei auf empirische Daten von insgesamt 1263 Herstellerfirmen aus den Jahren 2005 bis 2011 bedient. Wie die Daten zeigen, hatten die durchschnittlichen Lagerbestände (in Bestandstagen gemessen) ein Jahr nach Beginn der Krise einen Höchststand erreicht und erholten sich erst 18 Monate nach Beginn der Krise wieder. Die Überbestände der analysierten Unternehmen entsprachen circa 106 Milliarden US-Dollar. Die Studie zeigt allerdings erhebliche Abweichungen zwischen den einzelnen Unternehmen, und das sogar innerhalb ein und derselben Branche: Während sich die Lagerbestände beispielsweise bei Harley-Davidson auf einem 30 Prozent höheren Level als vor der Krise einpendelten, hatten sie bei Ford ein Jahr nach Beginn der Krise um 33 Prozent abgenommen.
Bewusstsein, Motivation, Fähigkeiten
Die Managementlehre legt nahe, dass ein Unternehmen auf eine Situation nur dann angemessen reagieren kann, wenn es sich dieser bewusst ist, die Motivation hat zu reagieren und dazu überhaupt fähig ist. Dasselbe gilt den Studienautoren zufolge für den Umgang mit Lagerbeständen in Krisensituationen. Mangelndes Bewusstsein habe 2008 kein Problem dargestellt, weil die Unternehmen fast täglich über Auftragsstornierungen informiert wurden. Im Hinblick auf ihre Motivation und ihre Fähigkeiten seien Unternehmen jedoch recht unterschiedlich aufgestellt. In manchen Unternehmen sei man vielleicht der Ansicht, dass man über eine ausreichende Liquidität verfüge und das Anwachsen der Lagerbestände hinnehmen könne. Ist das – wie bei zahlreichen Unternehmen während der Finanzkrise – nicht der Fall, müsse man auf der höchsten Führungsebene dem Lagerbestandsmanagement ausreichend Beachtung schenken. Den Autoren zufolge verfügen erfolgreiche Firmen über eine agile Wahrnehmung und die entsprechenden Bestandsmanagementfähigkeiten, so dass sie ihre Rohstoffeinkaufs- und Produktionsaktivitäten bei Bedarf schnell herunterfahren und so die Ansammlung von Lagerbeständen vermeiden können.
Finanzielle Konsequenzen
Die Forschungsergebnisse von Udenio, Hoberg und Fransoo legen nahe, dass der Lagerbestandsabbau als schnelle Maßnahme zur Erhöhung der Liquidität mit Blick auf seine potenziellen Auswirkungen auf andere Aspekte des Geschäftsergebnisses abgewägt werden muss. Manager müssen hinnehmen, dass sich sowohl Bestandsüberschüsse als auch Minderbestände – also die Tatsache, dass man die Lagerbestände zu wenig oder zu stark abgebaut hat – generell negativ auf das Geschäftsergebnis auswirken. Umso wichtiger ist daher die Investition in adäquate Bestandsmanagementkompetenzen. Bauen Unternehmen ihre Lagerbestände zu stark ab, kann ihr Geschäftsergebnis darunter leiden, dass ihnen Verkaufsmöglichkeiten entgehen, und auch die Unzufriedenheit ihrer Kunden macht sich bemerkbar. Sind die Lagerbestände dagegen zu groß, wird das Geschäftsergebnis von Wertminderungen sowie der Tatsache, dass für andere Aktivitäten nicht ausreichend Bargeld zur Verfügung steht, beeinflusst.
Der Artikel “Inventory Agility upon Demand Shocks: Empirical Evidence from the Financial Crisis” ist im Journal of Operations Management erschienen.