Die weltweite Corona-Epidemie wird deutliche Auswirkungen auf die globale Wirtschaft haben – und wahrscheinlich auch auf die globalen Lieferketten. Eine von Prof. Dr. Steffen Kinkel durchgeführte Studie legt nahe, dass die Krise das Reshoring verstärken könnte, also die Rückverlagerung von Produktion und Dienstleistungen zurück in das Land, aus dem sie ursprünglich ins Ausland verlagert wurden. Der Wirtschaftsingenieur ist Professor an der Fakultät für Informatik und Wirtschaftsinformatik der Hochschule Karlsruhe und Leiter des Instituts für Lernen und Innovation in Netzwerken (ILIN). Aus seiner Sicht lässt eine im September und Oktober 2019 durchgeführte Online-Umfrage der Hochschule Karlsruhe bei 655 produzierenden Unternehmen aus 16 führenden Industrienationen eine Einschätzung zu, welche Auswirkungen Lieferkettenprobleme auf lokale und globale Produktionsstrategien haben.
„Von den befragten Unternehmen, die einen ziemlich hohen bis sehr hohen Einfluss der Störungen globaler Lieferketten auf ihre Geschäftstätigkeit erwarten, gehen fast 50 Prozent davon aus, dass sie in den kommenden Jahren Teile ihrer Produktion aus dem Ausland wieder ins Inland zurückverlagern werden“, so Kinkel: „Bei Unternehmen, die einen geringen bis mittelmäßigen Einfluss der Störungen globaler Lieferketten auf ihre Geschäftstätigkeit erwarten, sind dies nur etwa 15 Prozent. Demnach ist infolge der Corona-Epidemie, die umfassende Störungen der globalen Lieferbeziehungen mit sich bringt, mit einer Zunahme der Rückverlagerungstätigkeiten zu rechnen.“
Statistisches Modell bestätigt Neigung zum Reshoring
Wie Kinkel weiter erläutert, haben diese Ergebnisse auch in einem statistischen Modell unter Kontrolle vielfältiger Merkmale und Strategien der teilnehmenden Unternehmen sowie deren Erwartungen zu externen Entwicklungen Bestand. Industrieunternehmen, die den Einfluss der Störungen globaler Lieferketten auf ihre Geschäftstätigkeit als ziemlich hoch bis sehr hoch einschätzen, zeigen demnach eine signifikant höhere Wahrscheinlichkeit, Produktion aus dem Ausland zurückzuholen.
Aktuelle Meldungen zu möglichen Rückverlagerungen betreffen insbesondere die Herstellung medizinischer Produkte und Medikamente sowie ihrer Wirkstoffe. Angesichts verwundbarer Lieferketten fordert nicht nur die deutsche Politik, die Produktion von Wirkstoffen und Medikamenten zumindest teilweise wieder zurück ins Inland zu holen. Dadurch soll die starke Abhängigkeit von Lieferanten aus China und Indien reduziert werden, was aber zu steigenden Preisen der Medikamente führen kann. Auch die Modellrechnungen der Hochschule Karlsruhe zeigen, dass insbesondere Sektoren der Grundversorgung wie die Hersteller von Nahrungsmitteln, Bekleidung, Chemie und Pharmazie zukünftig verstärkt Rückverlagerungen in Erwägung ziehen.
Das Reshoring ist jedoch nicht die einzige mögliche Reaktion auf die Corona-Krise. „Wird ein sehr hoher Einfluss der Lieferkettenstörungen auf die Geschäftstätigkeit erwartet, dann wirkt sich dies sowohl signifikant positiv auf den weiteren Ausbau lokaler Lieferketten als auch globaler Lieferketten aus“, so Kinkel: „Die Unternehmen scheinen dann eine Dual-Sourcing-Strategie mit sowohl inländischen als auch transnationalen Lieferantenbeziehungen anzustreben, um sich von den globalen Verwerfungen der Lieferketten unabhängiger zu machen.“